Ein Fahrrad ohne Kette – darauf fahren viele ab

Zu einem Fahrrad gehören Pedale, Sattel, Rahmen und die Kette. Daran könnte sich bald etwas ändern. Die Entwickler der Mitteldeutsche Fahrradwerke AG (MIFA) wollen den Zweirad-Markt revolutionieren. Sie tüfteln an einem Fahrrad, das ohne Kettenantrieb auskommt. Das Unternehmen holte sich kreative Kompetenz ins Haus: Industriedesigner Martin Wiesner aus Magdeburg stellte die Funktionalität auf den Prüfstand, entwarf das Design und baute ein Modell. Gemeinsam arbeiten der Kreative, der absatzstärkste deutsche Fahrradhersteller, die Hochschule Harz und das Wernigeröder Institut für Automatisierung und Informatik (IAI) an einem Projekt, das aus dem Rahmen fällt. Das Land Sachsen-Anhalt befördert solche Partnerschaften. Sie stehen im Mittelpunkt des Kreativ-Wettbewerbs BESTFORM 2013. Die Franzosen sind aus dem Häuschen. Auf dem Hof der MIFA in Sangerhausen drehen die fahrradbegeisterten Besucher Runde um Runde mit einem Fahrrad, das gar nicht so richtig aussieht wie ein Fahrrad. An den Prototypen für das neue E-Bike fehlt die Kette. Wenn die französischen Gäste in Sangerhausen nur ganz leicht in die Pedale treten, bekommen sie Schwung, als hätten sie Superkräfte getankt. „Das gehört zu den Vorteilen des Rads“, sagt Martin Wiesner, der lächelnd beobachtet, was an diesem Vormittag in Sangerhausen geschieht. Er ist hier, um Sandy Hille zu treffen. Der Diplom-Ingenieur gehört als Zuständiger für die Automatisierungstechnik bei MIFA zu jenen, die das Projekt „kettenloses Fahrrad“ aus der Taufe gehoben haben. Die es angeschoben haben und in Fahrt brachten – auch wenn viele, die zunächst davon hörten, skeptisch die Köpfe schüttelten.

Auf der Hannover Messe im April hat das erste Fahrrad der Welt, das komplett auf die klassische mechanische Kraftübertragung verzichtet, wie die Erfinder sagen, bereits für Furore gesorgt. Das Prinzip ist einfacher, als man vermuten könnte: Der Radler tritt in die Pedale und erzeugt damit über einen Generator, der dort sitzt, wo sich sonst ein Tretlager befindet, elektrische Energie. Über ein Kabel gelangt diese Energie zum Elektromotor im Hinterrad. Auf einen „Bordcomputer“ wurde verzichtet. Wer hier auf dem Sattel sitzt, steckt sein Smartphone in die Halterung und wählt wie viel Elektrokraft der Akku einspeisen soll.

 

Der Vorhang, der über den Prototypen und dem Modell lag, ist längst entfernt worden. „Wir konnten das sowieso nicht mehr geheim halten“, meint Sandy Hille. Und: Schon jetzt fahren Besucher und Messegäste darauf ab. Hille denkt, dass es potenziellen Kooperationspartnern, die für die Markteinführung gebraucht werden, genauso gehen wird.

 

Vorauszusehen war das vor knapp zwei Jahren nicht. Als die Idee geboren wurde, ein kettenloses Fahrrad zu erfinden, das vollautomatisch montiert werden kann, gab es nicht viel Beifall. Die ersten Schritte führten damals ins IAI. Dipl.-Ing. Steffen Braune und sein Team waren Feuer und Flamme, entwickelten das kettenlose Prinzip. „Zu den Schwierigkeiten gehörte, eine Regelungselektronik zu entwickeln, die den Energieverlust gering hält“, erklärt Sandy Hille. Beim Unternehmen „Giggel“ in Bösdorf entstand der erste Prototyp. Am klassischen Fahrradrahmen wurden die Bauteile montiert. „Das Prinzip funktionierte, und wir waren aus dem Häuschen“, erinnert sich Hille. „Aber wir wussten auch, dass wir dringend ein Design entwickeln müssen.“ Über Empfehlungen von Partnern und Experten gelangte man schließlich zu Martin Wiesner. Der damalige Student des Fachbereiches Industriedesign an der Hochschule Magdeburg-Stendal, sagte sofort zu. „Das Projekt klang spannend“, erinnert sich der Absolvent, der inzwischen als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Maschinenbau arbeitet und zugleich als freischaffender Designer unterwegs ist. Es passte wie der Generator zum E-Bike – der gebürtige Stuttgarter hat vor seiner Designer-Karriere Maschinenbau mit Ausrichtung Fahrzeugtechnik studiert und bereits bei einem Autohersteller gearbeitet. „Das war ein perfekte Kombination für uns“, sagt Sandy Hille.

 

Es kam viel ins Rollen in dieser Zeit. Fördergelder wurden beantragt – das Projekt erhält finanzielle Unterstützung von der EU und vom Bund. Das Entwicklungsziel wurde konkretisiert. Leichter sollte das Rad werden, schneller, eine neue Rahmenform musste gefunden werden. „Die Formensprache stimmte anfangs nicht, sagt Wiesner. Und Sandy Hille erinnert sich: „Martin Wiesner erklärte uns Dinge, an die wir gar nicht gedacht hätten.“ Unterschiedliche Rohrquerschnitte, unharmonische Proportionen, ein Akku, der nur sehr schwer zu entnehmen war. Solche Details wollte Martin Wiesner ändern. Gab er Empfehlungen, wurden diese im Team diskutiert. Techniker, Forscher, Fahrrad-Experten und der Designer näherten sich an. Am Bildschirm nahm das Fahrrad Gestalt an, später setzte Wiesner Stück für Stück ein Modell in Originalgröße zusammen. In den vergangenen Monaten war dieses Modell viel unterwegs. Zum Vorzeigen und zum Weiter-Tüfteln wurde es gebraucht. Aber so viel steht schon fest: Durch das neue elektrische Prinzip ist es möglich, eine automatische Schaltung zu integrieren, die sich dem Fahrer anpasst. Und das ist längst nicht der einzige Vorteil. Geht’s einen Berg hoch, schaltet das Bike von selbst auf einen leichteren Gang um, die Ketten-Montage entfällt, die Wartung ist geringer und das Gewicht auch – das neue Rad wiegt weniger als so manches E-Bike dieser Leistungsklasse.

 

Wann das Bike produziert wird, ist noch nicht ganz sicher, meint Hille. Aber dass es auch als Touren- und Cityrad angeboten werden soll, sieht er schon jetzt vor Augen. So wie er damals das kettenlose Fahrrad gesehen hat. Jetzt fahren auf „seinem“ Hof Franzosen mit dem Prototypen und sind so begeistert wie viele Gäste vor ihnen. „Wenn ich denken würde, dass etwas nicht geht, wäre ich falsch in diesem Job.“ Martin Wiesner nickt, als der MIFA-Mitarbeiter das sagt. Er schraubt vorsichtig sein Modell auseinander, um es transportieren zu können. Ein paar Aufgaben gibt es weiterhin für ihn. Und noch etwas steht auf seiner Agenda ganz oben: Die Beteiligung beim Kreativ-Wettbewerb BESTFORM. An alle Teilnahmebedingungen kann der Wahl-Magdeburger einen Haken setzen: Zusammenarbeit eines Vertreters der Kreativwirtschaft und eines Vertreters anderer Branchen; Entwicklung eines neuen, innovativen Produktes, das es noch nicht auf dem Markt gibt; der Hauptwohnsitz des „Kreativen“ ist Sachsen-Anhalt.

 

Diese Partnerschaft kommt ungebremst auf die Juroren zu. Freie Fahrt für eine Innovation, die Sachsen-Anhalt bestens in Form bringt!

 

BU: Sandy Hille, zuständiger Automatisierungstechniker und Martin Wiesner am neuen MIFA-Bike.